Panorama

Zeit gewonnen durch Mutationen "B.1.1.7 ist das Beste, was uns passieren konnte"

In der Modellregion Eckernförde und Schlei dürfen Touristen seit Montag wieder Urlaub machen. Die Politik erhofft sich Erkenntnisse, welche Öffnungen verantwortbar sind.

In der Modellregion Eckernförde und Schlei dürfen Touristen seit Montag wieder Urlaub machen. Die Politik erhofft sich Erkenntnisse, welche Öffnungen verantwortbar sind.

(Foto: imago images/Max Stein)

Corona mutiert oft und versucht, dabei immer besser zu werden. Doch manchmal können Mutanten auch nützlich sein. Die Impfkampagne hat durch B.1.1.7 Zeit gewonnen, sagt Professor Peter Kern, Leiter der Klinik für Immunologie am Klinikum Fulda, im Interview mit ntv.de. Ein Problem aus seiner Sicht: der Fokus auf den Inzidenzwert.

ntv.de: Wahrscheinlich schon am Samstag werden einige Beschränkungen für Geimpfte und Genesene fallen. Manche Experten warnen, dass man, wenn die Geimpften dann nicht mehr getestet würden, die Ausbreitung einer resistenten Mutante übersehen könnte. Teilen Sie diese Befürchtung?

Peter Kern: Dass sich bei uns neue Mutanten einschleichen, können wir gar nicht verhindern. Sonst müssten wir die Testpflicht beim Einreisen für immer in Kraft lassen. Die Frage ist also nicht: Kommt eine Mutante ins Land hinein, sondern: Breitet sie sich aus? Sie müsste aber bei Null anfangen und bräuchte Zeit, und diese Zeit hätten wir, um sie zu lokalisieren, Maßnahmen zu ergreifen und einen Impfstoff zu entwickeln. Darum: Theoretisch ja, wir könnten eine Mutante übersehen, aber praktisch ist das Problem beherrschbar.

Der Immunologe und Internist Peter M. Kern leitet die Klinik für Immunologie am Klinikum Fulda und lehrt an der Philipps Universität Marburg.

Der Immunologe und Internist Peter M. Kern leitet die Klinik für Immunologie am Klinikum Fulda und lehrt an der Philipps Universität Marburg.

Die südafrikanische Variante B.1.351 ist bisher in 300 Proben in Deutschland aufgetaucht, P1 aus Brasilien wurde 50 Mal entdeckt. Warum breiten sich diese Mutanten nicht weiter aus?

Das haben wir der britischen Variante zu verdanken. B.1.1.7 ist das Beste, was uns passieren konnte. Sie wurde an Weihnachten erstmals in Deutschland nachgewiesen und macht jetzt praktisch 99 Prozent aller Isolate aus. Sie hat also das Feld komplett übernommen, die Ursprungsvariante sehen wir gar nicht mehr, aber - und das ist ein Glück - auch P1 und B1.351 konnten neben ihr nicht Fuß fassen. Sie ist zwar deutlich ansteckender, aber sie ist wahrscheinlich kaum tödlicher - dazu gibt es derzeit noch widersprüchliche Studien. Entscheidend ist: Gegen B.1.1.7 schützt unsere Impfung genauso gut wie gegen den Ursprungstypen.

Anders als bei den anderen beiden. Da gibt es ja Hinweise, dass die Wirkung der Impfstoffe zumindest geschwächt ist.

Geschwächt ja, aber nicht wirkungslos. Doch B.1.1.7 hat verhindert, dass sich überhaupt andere Mutanten verbreiten konnten, vor der die Impfung nicht so gut schützt. In dem Fall hätten wir ja verloren, da könnten wir ja wieder bei Null anfangen. Durch B.1.1.7 haben wir für unsere Impfkampagne kostbare Zeit gewonnen.

Was aber passiert, wenn wir alle gegen B.1.1.7 immun sind? Geht das Virus dann ein und P1 oder noch fiesere Mutanten können sich sogar besser ausbreiten?

Wenn wir gegen B.1.1.7 immun sind, werden dennoch andere Mutanten kommen. Aber wir haben eine gewisse Schutzwirkung durch die Impfung, dadurch könnten sie sich nur wesentlich langsamer verbreiten. Entsteht jedoch eine Mutante, gegen die wir kaum geschützt sind, dann benötigen wir einen neuen Impfstoff. Dann schnell zu reagieren, wird dauerhaft eine Herausforderung sein.

Sie sagen, durch B.1.1.7 haben wir Zeit gewonnen. Müssen wir die nicht nutzen, um neue Impfstoffe zu entwickeln?

Ich bin mir sicher, dass es bereits so ist. Der Aufwand zur Entwicklung eines mRNA-Impfstoffs ist nicht furchtbar hoch, es wäre erstaunlich, wenn die Labore da nicht bereits in der Entwicklung wären. Wichtig ist auch: Das Virus will mit uns zurechtkommen. Es wird darum höchstwahrscheinlich keine ganz fatalen Varianten entwickeln, sondern solche, die zu einer Koexistenz führen und sich nicht so stark von dem unterscheiden, was wir bereits kennen. Die Natur ist kein Chaossystem, sondern das ist ein geordnetes Entwicklungssystem - auch auf Seiten der Viren.

Derzeit geht die Sieben-Tages-Inzidenz zurück, liegt aber noch bei rund 132,8. Ist das eine gute Ausgangsposition, jetzt, wo das Impftempo so anzieht? Es hieß ja, wenn die Kampagne richtig breit gefahren wird, sollte die Inzidenz sehr niedrig sein, um Mutationen zu verhindern.

Zunächst mal stimmt es: Wenn die Impfkampagne in Fahrt ist, steigt der Selektionsdruck auf das Virus enorm, weil sein Lebensraum so eng wird, es unter den vielen Immunisierten keine Wirte mehr findet. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine resistente Mutante entsteht, ist also umso größer, je besser die Menschen und je mehr Menschen geschützt sind. Es ist ein Wettlauf: Impfung gegen Mutation. Wenn wir aber schnell sind und bald wirklich viele Menschen weltweit geschützt sind, können sich neue Mutationen nicht mehr entwickeln, weil das Virus im Wirt Mensch totgelaufen ist. Dafür werden wir aber wohl mehrere Impfungen brauchen.

Bei hoher Inzidenz verbreitet sich das Virus aber noch stark weiter. Das wäre gut für eine Mutante.

Die Inzidenzzahl ist völlig aus der Luft gegriffen, das ist eine nicht mehr in wissenschaftlichen Daten verankerte Zahl, sondern ein willkürliches politisches Argument, weil sie nicht das abbildet, was wir eigentlich wissen müssen: Wie entwickelt sich die Zahl der Neuinfektionen in der gesamten Population? Wie ist das Altersprofil der Infizierten? Wie gut kann unser Gesundheitssystem die Situation noch stemmen?

Aber gibt die Inzidenz die Situation nicht ganz gut wider? Abgeleitet von den festgestellten Neuinfektionen pro Tag, hochgerechnet auf sieben Tage, runtergebrochen auf 100.000 Einwohner.

Diese Zahl hängt aber von vielen Bedingungen ab, die gar nichts mit dem Infektionsgeschehen zu tun haben, zum Beispiel von der Frage, wie viele Tests man macht. Der Landkreis, der dreimal so viele Menschen testet wie eine Woche zuvor, und sonst absolut nichts verändert, findet dreimal so viele Neuinfektionen wie in der Vorwoche.

Gibt es noch mehr Bedingungen, die vom Infektionsgeschehen entkoppelt sind?

Noch wichtiger für die Inzidenz ist die Frage der Selektion: Wen teste ich? Das hat sich über das Jahr deutlich gewandelt. Wir haben am Anfang, in der ersten Welle, Leute getestet, die irgendwie symptomatisch waren. Im Sommer war kaum noch jemand symptomatisch, da haben wir sehr zufällig getestet. Und jetzt testen wir sehr vor-selektioniert überwiegend Menschen, die vorher im Schnelltest positiv waren. Die Selektion hat sich also erheblich verändert, und demzufolge auch die Zahl der gefundenen Corona-Positiven. Unsere jetzige Inzidenzzahl kann man überhaupt nicht vergleichen mit der in der ersten Welle, als diese Maßzahl etabliert wurde. Wir werfen hier Ziffern durch den Raum, die jeder für sich persönlich definiert - der eine sagt 160, der nächste sagt 100, dann einer 300 - das ist willkürlich und unwissenschaftlich.

Dann bräuchten wir auch bundesweit eine Corona-Ampel, wie sie zum Beispiel das Land Berlin nutzt? Dort sind die Parameter: Reproduktionsrate, Inzidenzwert und Belegung der Intensivbetten.

Da fehlt als entscheidender Parameter das Altersprofil der Infizierten. Wenn unser Ziel ist: Wir wollen Todesfälle und schwerste Verläufe verhindern, dann müssen wir die Todeszahlen anschauen. Und da kann ich sagen: Die Leute unter 50 spielen keine Rolle in der Mortalität. In der Altersgruppe unter 50 sind im ersten Pandemiejahr etwa 700 Menschen mit oder an Corona gestorben, aber dennoch insgesamt sogar 1250 weniger als im Durchschnitt der drei Vorjahre. Über 50-jährige Todesopfer waren 80.300.

Wir müssen also auf die Menschen über 50 schauen?

Zwischen 50 und 60 ist eine Grauzone, aber ab 60 ist es relevant. Über den Daumen gepeilt: 15 Jahre Altersdifferenz machen einen Unterschied von Faktor 10. Ein 60-Jähriger, der sich infiziert, hat eine Sterbewahrscheinlichkeit von 0,5 Prozent. Ein 75-Jähriger stirbt mit 5 Prozent Wahrscheinlichkeit. Wir müssen die Menschen über 60 betrachten, davon haben wir 24 Millionen in Deutschland. Von denen sind heute bereits etwa 18 Millionen immunisiert. Bei den Infizierten machen die über 60-Jährigen keine 15 Prozent mehr aus. Wenn es uns also um das Ziel geht, die Todeszahlen in den Griff zu bekommen, haben wir es bald geschafft.

Und wenn das Ziel ist, die Intensivstationen nicht zu überlasten?

Wir müssen jedem Menschen, der schwer erkrankt ist, die Chance geben, auf die Intensivstation zu kommen. Nur dann hat er eine Überlebenschance, ohne Intensivbehandlung hat er keine. In der zweiten Welle hatten wir über Wochen hinweg eine Belegung der Intensivbetten von etwa 5000 Patienten, so wie jetzt auch. Doch von den Gestorbenen - täglich etwa 1000 - lag nur rund ein Fünftel überhaupt auf der Intensivstation. Die übrigen sind zuhause oder im Pflegeheim gestorben. Weil das Durchschnittsalter der Schwererkrankten in der zweiten Welle 81 war. Viele von denen hatten schon für sich entschieden: Sie gehen auf keine Intensivstation. Dass also unser Gesundheitssystem nicht kollabiert ist in der zweiten Welle, lag daran, dass so wenige gekommen sind, nur jeder Fünfte. Dass so viele gestorben sind, hat exakt denselben Grund.

Jetzt ist die Infektion bei den Jüngeren angekommen.

Von denen geht natürlich jeder Schwererkrankte auf die Intensivstation, jeder. Und wahrscheinlich liegen sie dort länger, weil sie mehr körperliche Kräfte haben, um sich zu wehren. Das bedeutet aber, dass schon sehr viel weniger Schwererkrankte die Intensivstationen genauso stark belasten wie es in der zweiten Welle der Fall war.

An diesem Punkt der Pandemie: Welches Ziel sollte sich die Politik da setzen?

Das prioritäre Ziel könnte lauten: Sterblichkeit senken. Ein anderes könnte lauten: Krankheitslast senken. Ein drittes wäre: Die Systembelastung begrenzen - finanziell, wirtschaftlich oder im Gesundheitssystem. Unsere Politik hat immer versucht, alle diese Ziele zu bedienen, dadurch hat sie an Schärfe verloren. Ich favorisiere die Betrachtung der Gesamtsterblichkeit. Ein strikter Lockdown wäre für mich dann gerechtfertigt, wenn nur damit Menschenleben zu retten wären. Aber ich glaube, in der Situation sind wir nicht mehr, weil wir eine effektive Impfung haben.

Dann plädieren Sie dafür, die Maßnahmen zu lockern?

Ja.

Jetzt?

Ja. Weil wir uns dem Punkt nähern, wo alle besonders Gefährdeten durch Impfung geschützt sind. Aber wir müssen uns klar machen: Es gibt keine "weiße Null". Eine Impfung schützt nicht 100-prozentig. Es werden immer Menschen sterben, das gehört zum Leben. Da würde ich abrücken von diesem Absolutismus, an Corona dürfe niemand sterben. Im Winter sah es anders aus, da hatten wir eine starke Übersterblichkeit, von der wir aber ab Mitte Februar in eine Untersterblichkeit gekommen sind - es sind weniger Menschen gestorben als sonst üblich. Jetzt liegen wir genau im Durchschnitt der Vorjahre. Solange sich die Gesamtsterblichkeit in einem Rahmen bewegt, den wir als Gesellschaft tolerieren können, rechtfertigt das keine so strengen Maßnahmen, erst recht keine Eingriffe in die Grundrechte.

Was sollten wir Ihrer Meinung nach lockern?

Die Lockerungen für Geimpfte und Genesene sind aus immunologischer Sicht ein guter erster Schritt. Wir müssen scharf beobachten, welche möglichen Folgen sie haben - eine Pandemie ist ein komplexes Geschehen, das Immunsystem des Menschen ist ein komplexes System. Was wir versuchen, ist, anhand der Immunität den Verlauf der weiteren Pandemie vorherzusagen. Da müssen wir die Begrenztheit unserer Möglichkeiten, glaube ich, bescheiden erkennen. Wenn wir aber feststellen, dass sich das Infektionsgeschehen in die richtige Richtung entwickelt, dann müssen bald weitere Schritte folgen.

Das klingt so, als wäre Deutschland auf dem Weg raus aus der Pandemie.

Wenn wir einen gewissen Grad an Immunität in der Bevölkerung erreicht haben - bei B.1.1.7 etwa 75 Prozent, kann es keine pandemische Ausbreitung mehr geben. Einzelfälle, schwere Verläufe und Todesfälle weiterhin, aber nicht mehr als Pandemie. Covid gehört dann zum Repertoire der Krankheiten, mit denen wir zu tun haben. Darum brauchen wir bessere Behandlungsmöglichkeiten, das ist derzeit noch sehr dürftig, aber ich hoffe, in etwa einem Jahr werden wir die Krankheit schon wesentlich besser behandeln können.

Aber Mutationen wird es weiterhin geben?

Hier ist das "Austrocknen" von Sars-CoV-2 erreichbar, weltweit wird es aber kaum gelingen. Man kann ein Virus in einer Population ausrotten, aber dann muss man die gesamte Population immunisieren. Dafür gibt es ein paar Beispiele - die Pocken waren so ein Fall, aber das ist sehr schwierig und bei so einem veränderungs- und kontaktfreudigen Virus wie Corona wird das kaum möglich sein. An irgendwelchen Ecken der Welt, fürchte ich, werden immer wieder neue Mutationen entstehen, die dann, wenn sie in der Lage sind, dem Impfschutz zu entgehen, sich auch in geschützten Populationen wieder ausbreiten können. Die Tür zu uns bleibt also offen, und der Normalzustand wird nicht mehr coronafrei sein. Es wird immer wieder neue Mutationen geben, gegen die man wieder neu impfen muss und kann. So haben wir eine Welt wie vorher, aber mit einer neuen Krankheit, sie heißt Covid.

Mit Peter Kern sprach Frauke Niemeyer

Quelle: ntv.de

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